Hikikomori
von Holger Schober. Gostner Hoftheater Nürnberg.
Karademir interessiert der verzerrte Blick auf die Außenwelt, das Fremdartige an „Hikikomori“, die Projektion geheimer Begierden auf eine eigentlich fremde Person aus dem Chat. In Zeiten von digitalen Facebook-Freundschaften längst nachvollziehbar.
(Nordbayern.de)
Was muss geschehen, damit sich jemand für Jahre in seinem Zimmer einsperrt, aufhört, sich regelmäßig zu waschen, aufhört, in Interaktion mit Anderen zu treten, hinter seinem Computer oder Fernseher verschwindet und sich nur noch von fastfood ernährt? Was muss geschehen, damit solch ein Phänomen zur Volkskrankheit wird? Was für eine Gesellschaft muss das sein?
Ich meine, wir kennen das: Man nennt es Winterdepression oder die Eigenart von Kellerkindern, kleinen Nerds, die nicht mal fürs Essen ihren Computer verlassen. Maximal kennen wir noch das berüchtigte Burnout-Syndrom, welches immer öfter unsere hiesigen Lehrer und andere Berufsgruppen befällt. Aber das sind Phasen und die halten nicht jahrelang an. Bei Winterdepression hilft Ingwertee und eine Rotlichtlampe, bei Kellerkindern kommt irgendwann die Mama und schaltet den Computer aus: „Genug jetzt. Geh mal raus.“
Aber in Japan ist das anders. Da leben inzwischen eine Million junge Menschen allein in Tokyo, vorwiegend junge Männer zwischen 25 und 35 Jahren, die für Jahre nicht aus ihren Zimmern kommen, man nennt sie Hikikomori. Sie halten dem Druck, der auf ihnen lastet, nicht Stand und verkriechen sich, in der Hoffnung, das da draußen alles vergessen zu können. Nach dem Motto: „Lasset diesen Kelch an mir vorüberziehen.“ Die Eltern können in diesem Fall nicht viel machen. Weder gut zureden, noch betteln, noch physische Gewalt helfen. Aber es gibt bereits Anlaufstellen für verzweifelte Eltern, Hilfsstationen, die ihr Bestes geben, Kontakt zu den jungen Menschen aufzunehmen und ihnen die Welt wieder schmackhaft zu machen.
Der junge Holger Schober – auch der Autor von „Clyde und Bonnie“ – beschäftigt sich in seinem gleichnahmigen Stück mit den Hikikomori. Angelegt als Ein-Mann-Stück schreibt er über den jungen Mann H., der seit acht Jahren in seinem Zimmer haust und der sich schon lang einfach nicht mehr aus dieser schützenden Kapsel heraus traut, der alle Spiegel zertrümmert und sein Gesicht im Klo herunter gespült hat, um sich selbst lieben zu können, der im Grunde von der Vergangenheit träumt und von der Zukunft, aber der den Schritt vor die Tür nicht wagt. Als er im Chat ein junges, lebensfrohes Mädchen trifft, fängt er an zu hoffen. Doch der Blick, den er ihr schenken soll, für den er sich aufrafft, bereit macht, hinauszugehen, wird für ihn ein Schock, der ihn sich noch tiefer in seinem Schneckenhaus verkriechen lässt.
Weder die Schwester, die über Chat versucht, ihren Bruder zu erreichen, noch die Mutter, die durch die Tür erst bettelt, dann schimpft, dann zetert und schließlich sich als Mutter lossagt, sieht man auch in der Inszenierung Baris Karademir am Gostner Hoftheater. H. öffnet nach 50 Minuten die Tür zum Flur und sinkt wie in Trance zurück auf sein versifftes Bett, zurück zu seiner Tastatur, zurück in die virtuelle Welt zu rosebut und motherfucker.
Die Inszenierung brilliert neben dem Schauspieler Sören Canenbley mit einem Bühnenbild, das besagt: Sein Leben spielt sich auf der Tastatur ab. Einfach, aber gekonnt. Bett, T-Shirt, Jogginghose und Haare sind speckig und ranzig-fettig. Zur Hälfte der Aufführung schüttet sich H. sechs Packungen Apfelmus über Kopf, Bauch und Rücken, mit Holger Schobers Worten: „Früher habe ich Äpfel gehasst.“ Der Text wird in dieser Inszenierung immer wieder unterbrochen von Videosequenzen, Traumsequenzen und körperlichen Ausbrüchen – ein kleines Stück Tanztheater.
Außer der zwei Mal auftauchenden asiatischen Musik hat diese Inszenierung nicht mehr viel mit Japan zu tun. Aber das ist ja gerade das Spannende: Warum sollte eine solche Krankheit nur Japan befallen? Vielleicht hat Holger Schober diese Form der Einsiedelei auch in unseren Breitengraden schon ausfindig gemacht.
Wo sind sie, unsere Hikikomori?